Giro della Greina
Das Paradies an sanften Hängen

Eine Wanderung im Spätherbst auf der Greina Hochebene ist eine einsame Reise durch geschützte Gebiete. Zwischen Tessin und Graubünden erlebt man eine Landschaft und Stimmung, die an Steppen oder die Tundra erinnern…

Text und Fotos: Stéphane Maire

Der Greinapass ist einer der ältesten Übergänge von Nord nach Süd und verbindet das Rheintal mit dem Tessin und noch südlicher mit Italien. In früheren Zeiten wurde er als Handelsweg verwendet, hauptsächlich zum Zweck des Handels mit Vieh, welches bis Ende des 19. Jahrhunderts auf den Tessiner Märkten versteigert wurde. Die Bewohner des Blenio Tals überquerten den Pass, um zu ihrem Weideland zu gelangen, welches hinter Vrin im Kanton Graubünden lag. Der Greinapass erlangte aber nie die Bedeutung seines bekannten Nachbars, des Lukmanier Passes (Lucomagno). In den 1970er und 1980er Jahren wurde ein von den Elektrizitätswerken Nordost geplantes Staudammprojekt aufgrund des enormen Widerstandes der Bevölkerung, welche den unschätzbaren Wert der Hochebene erkannt hatte, eingestellt. Seit 1996 ist die Greina geschützt und im Bundesverzeichnis der Landschaften, Orte und Bauwerke von nationalem Interesse eingetragen. Die Eidgenossenschaft garantiert den Schutz und die Erhaltung seiner Wasserreserven und entschädigt dafür die umliegenden Gemeinden jährlich mit einem Gesamtbetrag von einer Million Schweizerfranken.

Geschützte Landschaften
Wenn man die „Giro della Greina“ Tour in Angriff nimmt, so ist man sich auf den ersten Blick der Gefahr gar nicht bewusst, welcher dieses kleine paradiesische Eckchen ausgesetzt war. Es scheint so selbstverständlich, dass solche Naturlandschaften schon immer geschützt waren…Die Hochebene wird von einem Flüsschen durchzogen, welches sich in Mäandern seinen Weg durch die Landschaft bahnt. Dessen Ufer ist von Feuchtzonen umgeben, die über eine reiche Flora verfügen. Die Besucher dieser wunderschönen Hochebene wissen nur zu gut, dass man jene Täler, welche von der menschlichen Ausbeutung durch Wasserkraftwerke oder durch den Skitourismus verschont geblieben sind, an einer Hand aufzählen kann. Die Tessiner haben sich, wie es den Anschein macht, gegen die mechanische Ausbeutung ihres Fleckchens am meisten gewehrt. Doch das steile Relief – man vergisst häufig, dass das Tessin auch eine Bergregion ist – eignet sich dafür für eine sanftere Form von Sport, das Tourenskifahren im Winter. Zur grossen Freude all jener Liebhaber, die unberührte Landschaften lieben, bildet die Greina Region da keine Ausnahme.

Die Geschichten rund um das Wasser
Man kann zur Entdeckung dieses Schmuckstücks der Natur aufbrechen und dabei nur eine einzige Etappe zurücklegen – wenngleich eine ziemlich lange – entlang welcher es, für längere Aufenthalte in der Region, viele Hütten zum Übernachten gibt. Wer eine Tour vom Bündnerland aus bevorzugt, dem sei die Camona da Terri Hütte empfohlen, für Liebhaber der Tessinerseite sind die Capanna Scaletta oder die Mottersascio beliebte Möglichkeiten, die keine Wünsche offen lassen.

Wir haben uns für das Blenio-Tal im Tessin entschieden, wo wir eine Nacht im Zelt verbringen, bevor wir in den frühen Morgenstunden das Abenteuer in Angriff nehmen wollen. Wir verlassen langsam das Bergdorf Daigra und marschieren in Richtung Greinapass. Was dem Reisenden hier sehr schnell auffällt, ist das Übermass an Wasser. Stauseen, Flüsschen, Wildbäche, es gurgelt von überall! Wasserfälle, einer schöner als der andere, ausgewaschene Felsformationen und Mäander zieren den Weg. Liebhaber des kostbaren Nass kommen hier auf ihre Rechnung…

Zentralasiatische Steppen
Nahe bei der Capanna Scaletta wollen wir auf keinen Fall den berühmten natürlichen Steinbogen verpassen, der in allen topographischen Führern erwähnt ist, und so folgen wir der blau-weiss markierten Beschilderung, die uns zu ihm führen soll. Ein Abstecher auf die Bündnerseite gibt uns die Möglichkeit, die Greina-Ebene („Plaun la Greina“ auf Rätoromanisch) zu bewundern. Nach und nach öffnet sich die Landschaft. Der Weg ist bis weit in die Ferne ersichtlich, und so lassen wir uns wie Schlafwandler führen. Hier sind wir nun also, bei allerschönstem Wetter, inmitten dieses Gebietes, welches an die zentralasiatische Steppe erinnert. Unsere von der Spätherbstsonne gebräunte Haut verstärkt dieses Gefühl noch. Die lokale Flora begeistert jeden Sommer zahlreiche Bergliebhaber. Wir stellen uns die Region in dieser Zeit allerdings ziemlich überlaufen vor. Doch heute sind wir ganz alleine und geniessen die Stille. Bevor wir wieder auf Tessiner Territorium zurückkehren, lassen wir uns nochmals von der magischen Atmosphäre verzaubern, welche diese Hochebene ausstrahlt. Es ist schwierig, diesem Ort, in welchem eine so wunderbare Ruhe herrscht, den Rücken zuzukehren. Die Stille, die nur vom leisen Murmeln des Flüsschens durchbrochen wird, hat etwas Hypnotisches…

Wir überqueren den Crap la Crusch und beginnen den langsamen Abstieg in Richtung Capanna Motterascio. Die ausgedehnte Hochebene gleichen Namens verstärkt den Eindruck von Grossartigkeit, die inzwischen zu unserer ständigen Begleiterin geworden ist. In der Hütte, die wir für die Übernachtung gewählt haben, herrscht totale Leere. Die betreute Saisonzeit ist vor ein bis zwei Wochen zu Ende gegangen, und so sind nur noch einige Handwerker vor Ort, welche letzte Arbeiten vor dem Winter ausführen. Auf der letzten Etappe unserer Tour, runter zum Lago di Luzzone, kommen wir wieder vermehrt durch alpine Landschaften. Das Valle di Garzora bildet einen starken Kontrast zur sanften Greina Hochebene. Die intensiven Farben der Lärchen machen die harte Umgebung etwas weicher. Nach einem Abstieg durch einen schönen Wald erreichen wir die Tessinerebene. Bleibt nichts mehr weiter zu tun, als zurück zu unserem Ausgangspunkt zu gehen, welchen wir über eine befahrene Strasse erreichen. Dies lässt uns genügend Zeit, die erlebten Eindrücke in Gedanken nochmals Revue passieren zu lassen, und dabei wird klar– die “Giro“ ist ein Erlebnis, welches alles bisher erlebte in den Schatten stellt…

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